Musikgeschichte Buchen
Im Rahmen des Jubiläums „325 Jahre Kirchenmusik“ fand am Samstag, 14. September 2013, ein historisch-musikalischer Abend in zehn Bildern statt.
Hier wurde die Geschichte der Kirchenmusik an St. Oswald Buchen lebendig vorgeführt – von den frühen Anfängen im 17. Jahrhundert bis hin zur Vielfalt der Gegenwart, begleitet von passenden Musikstücken und eindrucksvollen szenischen Darstellungen.
Es war schon ein denkwürdiges Jahr, dieses Jahr 1688. In Preußen stirbt Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, besser bekannt als der Große Kurfürst. In England bricht die „Glorious Revolution“ aus: Prinz William III. von Oranien nimmt England unblutig in Besitz und unterzeichnet die „Bill of Rights, durch die England zur konstitutionellen Monarchie wird. Markgraf Ludwig Wilhelm I. von Baden-Baden mit dem bezeichnenden Beinamen „der Türkenlouis“ besiegt die Türken in der Schlacht bei Nisch.
Und in Buchen? Was war mit dem kleinen kurmainzischen Landstädtchen mit seinen damals rund 1000 Einwohnern?
Die rundum befestigte Stadt hatte gut fünfzig Jahre zuvor den Dreißigjährigen Krieg und eine verheerende Pestepidemie überstanden, die einen gewaltigen Aderlass bedeutete, waren doch schätzungsweise mindestens 300 Einwohner der Seuche zum Opfer gefallen, von den Verlusten in Folge Belagerungen oder sonstiger Kriegshandlungen gar nicht zu reden. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts hatte die Stadt annähernd ihre frühere Einwohnerzahl wieder erreicht. Es ging erst mal aufwärts, so schien es. 1672 war hier in einem stattlichen Fachwerkhaus am Marktplatz Gottfried Bessel geboren worden, der später einer der bedeutendsten Äbte von Stift Göttweig werden sollte.
1688 machte das Städtchen gar Bekanntschaft mit dem „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. von Frankreich. Doch so sonnig war diese Bekanntschaft leider nicht: Buchen wurde wiedermal belagert und in Kriegshandlungen verwickelt, und zwar durch Truppen des „Sonnenkönigs“ im Zusammenhang mit dem pfälzischen Erbfolgekrieg. Ein Teil der Befestigungsanlagen der Stadt, nämlich die äußere Ringmauer, wurde geschleift, und auch später nicht mehr wieder in der vorigen Form aufgebaut.
Dies waren eigentlich keine Zeiten, die dazu geeignet waren, Kunst und Kultur zu fördern. Und dennoch: genau in diesem Jahr 1688 hören wir erstmals von einem Kantor, der an der Buchener Stadtkirche angestellt wurde, Johann Peter Goldt mit Namen. Und genau dieses Datum darf man als Beginn kontinuierlicher kirchenmusikalischer Aktivität bezeichnen. Es ist ein zufällig erhaltener Beleg, der den Namen dieses Buchener Kantors nennt, was natürlich nicht heißen muss, dass es nicht schon vorher Kirchenmusik an St. Oswald gegeben hat. Die Musikpflege an der Stadtkirche St. Oswald, die übrigens schon längst ihre spätgotische Gestalt erhalten hatte, wie wir sie im wesentlichen heute noch sehen, war schon immer Aufgabe des Schulmeisters gewesen. Und Hinweise auf seine Tätigkeit gibt es schon sehr viel früher.
Rückblende ins frühe 17. Jahrhundert: Schon die älteste Buchener Pfarreirechnung von 1610 gibt uns erste Hinweise darüber, dass man sich auch hier damals schon um den Kirchengesang gekümmert hat: der Schulmeister, der zugleich auch kirchenmusikalische Aufgaben in der Liturgie wahrzunehmen hatte, erhielt 3 Gulden und 19 Weißpfennige, unter anderem für das Abschreiben des ganzen Psalteriums und das Ausbessern des großen Antiphonars. Das war durchaus seine Aufgabe gewesen, denn wer sonst als der Schulmeister (und vielleicht noch der Pfarrer) konnte lesen und schreiben. 1615 hat dann der Landesherr, der Kurfürst von Mainz, eine neue Schul- und Kirchenordnung erlassen, die die Aufgaben des Schulmeisters genau umschreibt. Da heißt es z. B.: „Nicht weniger sollen die Schulmeister die Knaben in dem Kirchengesang unterrichten, damit dieselbe unter dem Amt der Heiligen Meß, wie auch unter der Vesper sich mit gebrauchen lassen können“.
Aus dieser Zeit, um 1615, sind uns schon – lange vor dem ersten Kantor - die Namen der Schulmeister bekannt. Da wäre zu nennen Matthias Trunk aus Schneeberg, 1604 in Buchen verstorben. Sein Grabdenkmal befindet neben dem Haupteingang der Kirche. Einer seiner Nachfolger war der spätere Stadtschreiber und Verfasser des sog. Buchener Jurisdiktionalbuches, einer Urkundensammlung mit den wichtigsten Dokumenten zur Stadtgeschichte, Johannes Kieser. Er bezeichnete sich in den Jahren zwischen 1636 und 1642 mehrfach als Ludimoderator, Scholasticus oder Ludirector. Daneben war er – ein richtiges Multitalent - kaiserlicher Notar und ihm verdanken wir den einzigen zeitgenössischen Bericht über die Pestepidemie. Ab etwa 1647 lässt sich der aus Amorbach stammende Valentin Breunig als Lehrer in Buchen nachweisen, der 1673 hier verstorben ist. Aus den Visitationsprotokollen des Jahres 1654 ist eine Charakterisierung des damaligen Schulmeisters zu entnehmen, die sich vermutlich auf Breunig bezieht: „Er ist Musiker, Organist und Lateiner und gilt als sehr sorgfältig. Er lehrt die Jugend singen, sowohl figural, d. h. mehrstimmig, als auch choral. Zur Zeit hat er 50 Schüler, die Eltern schicken die Knaben pünktlich zur Schule. Das Schulhaus ist gedeckt und in gutem Zustand. Die Schule wird vom Pfarrer nicht visitiert.“ Und als Zusatz lesen wir: „Dieser gute Schulmeister erduldet vom Pfarrer viele Wutausbrüche“. Und überhaupt, am damaligen Pfarrer, – es war wahrscheinlich der Benediktiner P. Bernhard Schmück aus Kloster Amorbach, denn die Amorbacher Mönche waren hier bis ins 18. Jahrhundert hinein für die Seelsorge zuständig – also, am damaligen Pfarrer lässt das Visitationsprotokoll kein gutes Haar: „Es wäre zuweilen sicher Not, dass man ihm mit einer Heugabel zu fressen gebe, aber gar darf keiner nahe an ihn gehen, denn er schlägt und beißt.“
So war's also in Buchen um Kirche und Schule im 17. Jahrhundert bestellt. Und 1682 gab es dann eine neue Verordnung, die die allgemeine Schulpflicht aller Kinder, auch die der Mädchen, vom 6. bis zum 12. Lebensjahr vorschrieb. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Schulmeister sämtliche Dienste alleine zu verrichten: also Schulunterricht, Mesner- und Glöcknerdienste, Orgelspielen an Sonn- und Feiertagen. Das war wohl alles ganz schön viel für eine Person. Deshalb bekam der Schulmeister, der künftig als Rektor bezeichnet wird, eben ab 1688 erstmals einen Kantor zur Seite gestellt, nämlich den Johann Peter Goldt.
Die Entscheidung, einen zweiten Lehrer, anzustellen, war sicher „goldt“ richtig. Die Pfarreirechnungen sprechen für sich: man kauft „2 Geig“ und Geigensaiten „uff die Orgel“, d. h. Instrumente für den Gebrauch auf der Orgelempore, „ein Choralbuch in die Kirch“ wird angeschafft. Für besondere Feste, wie die Ausgestaltung der Gottesdienste in der Kreuzwoche, also nach dem 5. Sonntag nach Ostern, werden künftig regelmäßig Singmägde und Musikanten entlohnt. Vielleicht mangelte es ja anfangs noch ein bisschen an der musikalischen Ausbildung, mag sein, denn zum Rochusfest 1701 musste man sich noch Walldürner Musikanten ausleihen. Das konnte kein Dauerzustand bleiben: ein paar Jahre später, 1706 heißt es dann schon über die Walldürner Musikanten „sind nit gebraucht worden“.
Es war eine schwierige Zeit, die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, nicht nur wegen der Walldürner Musikanten. Die Stelle des Kantors war zunächst wohl nur – modern gesprochen – „befristet“, denn nach 1689 hören wir plötzlich für ein paar Jahre nichts mehr von einem Kantor. 1692 erscheinen Adam und Philipp Breunig – Vater und Sohn – auf der Rektoren- und Kantorenstelle, aber von Dauer war auch das nicht: der Sohn Philipp verschwindet im Jahr 1700 plötzlich, ohne sich beurlauben zu lassen. Für den Vater wird’s zuviel, man bietet ihm die Kantorenstelle an und will einen neuen Rektor einstellen. Die Folge ist ein längerer Streit, der schließlich dazu führt, dass Adam Breunig 1701 endgültig seinen Dienst quittiert.
Das war wohl alles recht unbefriedigend, so dass nun die Stadt tätig wird. Die Bürgermeisteramtsrechnungen des Jahres 1701 geben interessante Hinweise: „Nachdem wegen vorhandener starker Jugend und zu Instruierung derselben die höchste Notdurft erfordert, dass nebst einem Rectori auch ein Cantor angenommen wird, müssen dann die Schul auf zwei Wohnungen gebauet und mit einem Stockwerk erhöhet werden.“ Die Kantorenstelle soll nun also zur festen Einrichtung werden und es dauert nicht lange, da wird Rektor Johann Georg Külsheimer von Tauberbischofsheim abgeholt, und der neuen Kantor heißt Franz Anton Wendeler und zuvor als katholischer Schulmeister und Organist in Neckarelz tätig gewesen. Beide werden erst mal bei Buchener Bürgern einquartiert, bis die beiden Wohnungen im Schulhaus fertig sind, d. h. ein weiteres Stockwerk aufgesetzt, eine neue Schulstube mit Tafel, Bänken und zwei neuen Öfen aus Frankfurt fertig eingerichtet ist.
Nun, da eine zweite Lehrerstelle endgültig geschaffen wurde, ist es an der Zeit, die Aufgaben zwischen Rektor und Kantor wie folgt neu zu verteilen. Der Rektor ist für die Knaben zuständig und erteilt Musikunterricht und bei Bedarf auch Lateinunterricht, der Kantor ist für den Unterricht der Mädchen und das Orgelspielen zuständig und übernimmt zudem die Mesner- und Glöcknerdienste.
Und wir erfahren noch von einer weiteren Persönlichkeit, die für die Musikpflege in der Stadt zuständig ist: nämlich von Matthias Römich aus Lauda, Nachfolger von Peter Kieser. Römich tritt 1703 seine neue Stelle als Stadttürmer und Stadtmusikant in Buchen an. Kein Wunder, wenn man 1704 auf die Walldürner Musikanten getrost verzichten kann. Man hat ja inzwischen genug eigenes Personal und kann, wie es so schön heißt, „die Musik selber machen“.
Und das hat man in den nächsten Jahren wohl auch gerne getan. Die Pfarreirechnungen bis 1715 berichten von zwei Geigen und zwei Diskantgeigen, die man neu angeschafft hat. Es ist mehrfach die Rede von „unterschiedlichen neuen Musikalien“, die man in Frankfurt oder andernorts erwirbt, von Motettenbüchern, von einem „musikalisch opus vesperarum“, von Choralbüchern und „etlichen geschriebenen Messen und Motetten“. Klar, dass der neue Rektor Balthasar Schmitt 1715 einen Schrank für die „Musikalien auf der Orgel“ anschaffen lässt, denn die dort vorhandene Nische zur Aufbewahrung der Noten reichte längst nicht mehr aus.
Doch dann kommt, von einem Tag auf den anderen die Katastrophe: ein Blitzschlag hatte in der Nacht des 1. September 1717 einen verheerenden Stadtbrand ausgelöst, dem zahlreiche Gebäude zum Opfer gefallen sind. Auch der Kirchturm und das Kirchendach wurden erheblich in Mitleidenschaft gezogen und mussten umfassend renoviert werden. Wie das in solchen Fällen meistens ist, stritt man erst mal, wer für die Renovierungskosten der einzelnen Bauteile Turm, Chor und Langhaus zuständig ist: das Kloster Amorbach als Patronats- und Zehntherr, die Pfarrei oder die Stadt Buchen, die den Turm mit seinen Glocken bei Feuer oder sonstigen Gefahren brauchte? Die von Abt Sanderad von Amorbach „auf gut nachbarschaftlichem Wege“ angebotenen 50 Gulden waren angesichts der zu erwartenden Kosten in Höhe von rund 1000 Reichstalern nicht mal ein Tröpfchen auf dem heißen Stein und schlichtweg nicht akzeptabel. Da musste schon die Mainzer Landesregierung eingreifen und das Kloster daran erinnern, dass es für den Chor nebst dem darüber stehenden Turm baulastpflichtig ist. Unbürokratischere Unterstützung war schon eher aus den Nachbargemeinden zu erwarten: die Gemeinde Götzingen stiftete lobenswerterweise 15 Stämme Bauholz für den Wiederaufbau des Dachstuhls.
Klar, dass man angesichts dieser Brandkatastrophe erst mal zur Sparsamkeit gezwungen war und Kirchenmusik nicht an erster Stelle stand.
Die Situation der Buchener Kirchenmusik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird aus der Antwort auf einen Fragebogen deutlich, der 1740 an die Pfarreien des Bistums Würzburg verschickt wurde. Eine von zehn Fragen bezog sich auch auf die Gestaltung der Kirchenmusik; „An Sonn- und Feiertagen wird musiziert, außer in der Fastenzeit und im Advent, wo Choral gesungen wird. An normalen Sonn- und Feiertagen wird nach der Elevation ein deutsches Lied gesungen. Zu sonstiger Musik gebe es keinen Fonds, außer dass der Stadttürmer ein Salaire bekomme, damit er mit seinem Instrument „die Musik zieren und complet machen“ solle. Die Vernachlässigung der Kirchenmusik war in der Mitte des 18. Jahrhunderts doch wohl ein allgemeines Problem, prangerte der Würzburger Bischof dies doch 1749 deutlich an: der Choralgesang werde durch Chor- und Schulrektoren vernachlässigt und „ganz ohnförmliche Musik“ werde aufgeführt.
Erst mit dem neuen Rektor Georg Joseph Pfister, der 1755 sein Amt antrat und nun zusammen mit Kantor Bernhard Franz Wendeler für die Kirchenmusik an St. Oswald zuständig war, sollte sich die ändern. Zum Ankauf zahlreicher Instrumente und zur Begleichung häufiger Reparaturkosten wurde in dieser Zeit auch der Kreuzkapellenfonds „auf Assignation des Rates“ herangezogen. Wir erfahren jetzt – 1768/69 - erstmals den Namen eines Komponisten. Da heißt es in der Kreuzkapellenrechnung: „Zu einer böhmischen Mess von Auctore Brixi für allhiesiges Gotteshaus musste dieses Amt beitragen 1 Gulden.“ Mit dem „Auctore Brixi“ dürfte vermutlich Simon Brixi aus Prag gemeint. Es wurde also eifrig musiziert.
In diesen Jahren wuchs in Buchen der am 20. Juni 1756 zu Miltenberg geborene Joseph Martin Kraus auf. Kraus' Vater Joseph Bernhard war seit 1761 Amtskeller in Buchen. Joseph Martin besuchte in Buchen die Schule, bei Rektor Pfister und Kantor Wendeler erhielt er ersten Unterricht in der Musik. Er selbst erinnert sich später in einem Brief von 1785 an seine Eltern mit den Worten „... denk so der Geschichte nach -... - wie der Knabe... beim alten Kantor's Klavier, beim Rektor die Fidel und's Lateinische verhunzen lernte...“. Die Fähigkeiten des Rektor Georg Joseph Pfister scheinen trotz allem Eifer wohl nicht die allerbesten gewesen zu sein. Von seinen Charakterzügen her war er eher ein aufbrausender Mensch, der dem Pfarrer und der Stadt des öfteren Schwierigkeiten bereitete. Das Ratsprotokoll der Stadt Buchen vom 21. Juli 1755 vermerkt folgendes: „Die Musik in der Kirche betreffend ist in der Stadt und Nachbarschaft kundig, wie schlecht solche durch den erwähnten Rectoren Chori, welcher das wenigste davon verstehet, besorgt wird. Also dass daraus schon viele Ärgernisse und Irreverention in dem Gotteshaus entstanden sind, zumal derselbe die übrigen Musikanten als Subalterne traktiren will, auch bei der geringsten Einrede dieselben allschon mit Schlägen abgefertigt hat...“ An anderer Stelle heißt es über Pfister: „Im Kirchengesang wird die Jugend schlecht unterrichtet, an Musik ist gar nicht zu denken.“ Noch im Jahre 1776 heißt es über Pfister „ist sehr unruhig, heftig und grob, suchet Gesellschaft und Spiel“. Über Kantor Wendeler wird ausgesagt, er sei in den Sitten untadelhaft, in den Fähigkeiten aber sehr mittelmäßig; er war ein Schulmeistersohn ohne Studien.
Dennoch, bei Rektor Pfister und Kantor Wendeler, kam der damals 5- oder 6-jährige Joseph Martin Kraus erstmals in Kontakt mit der Musik, wie Pfister in einer Brief an Kraus' Eltern im Jahr 1800 sehr selbstbewusst berichtet: „Seine Anlage zur Musik war eben so ausnehmend und wundervoll, dass er in der Stimme zum Diskant seine weibliche Nebensopranisten in der Höhe und Fertigkeit gleich im ersten Vierteljahr übertraf, und so auch auf seinem kleinen Geigchen (denn eine Große konnte er noch nicht erspannen) in einem Trio die erste, ich sein Lehrer die zweite Violin mit Verwunderung aller auf der Orgel in der Kirche abspielte, und so nahm er natürlicherweise bis ins 10te Jahr seines Alters also zu, dass er fast überfähig auf Mannheim in das dortige Musikseminarium und zur ersten Schule aufgenommen worden“. Auch Kraus' Schwester Marianne, die ebenfalls in Buchen ihren ersten Unterricht genoss, meinte dazu: „ ...bei Rektor Pfister musste er die Musik lernen und spielen, die er eben hatte, und von welchen die meisten ohne Autor waren, ebenso auch beim Kantor Wendler“.
1768 kam Kraus also nach Mannheim in das dortige Jesuitengymnasium und Musikseminar, anschließend folgte das Jurastudium an den Universitäten Mainz und Erfurt. 1775 wurde Kraus' Vater, der Amtskeller Joseph Bernhard Kraus, in einen Prozess verwickelt und seines Amtes enthoben. Aus finanziellen Gründen musste Sohn Joseph für etwa ein Jahr das Studium unterbrechen und nach Buchen zurückkehren. Und was macht ein knapp 20-jähriger ein Jahr lang hier? Er dressiert Hunde im Hof der kurmainzischen Amtskellerei, er schreibt ein Trauerspiel in drei Akten, „Tolon“, das allerdings von den Kritikern jämmerlich verrissen wird und – er komponiert Kirchenmusik, und zwar zur Aufführung in der Buchener Kirche und durch die hier ansässigen Musiker.
Zu seinen hier geschaffenen kirchenmusikalischen Kompositionen zählen ein Te Deum, die Motette „Fracto Demum Sacramentum“, sowie zwei Oratorien „Tod Jesu“ und „Geburt Jesu“. Das Oratorium auf den Tod Jesu ist erhalten geblieben, während das Oratorium auf die Geburt Jesu verloren gegangen, oder was wahrscheinlicher ist, von Rektor Pfister, dem Kraus dies Werk zugeeignet hatte, in eine Messe umkomponiert wurde. Marianne Kraus hatte Kraus' erstem Biografen Silverstolpe 1801 mitgeteilt, dass dieses Oratorium verloren gegangen sei, nicht aber die Themata der Musik „weil bald nach dessen Entstehung, noch im Jahre 1777, Herr Rektor Pfister eine Messe davon gespielet, die ich nun auch habe“. Kraus selbst hatte sich vor Ostern 1777 in einem Schreiben an seinen Bruder Franz wohl in Bezug auf diese Messe sehr ironisch geäußert: „Meinen Herrn Kollegen, den Herrn Komponisten Pfister grüße mir ex Officio collegiali mit dem Anhang, dass ich mich noch bis auf diese Stunde über seinen vortrefflichen Brief über die Com- und Adpositionen, wie auch musikalische Mixtur der Messe erbaut. Zu diesem Behufe will ich ihm auf die Ostern Missa oder (ohne Zweifel komme ich zu spät) zu einer Pfingstmissa ein unmassgebliches Rezept beilegen.“
Ungeachtet dessen rühmt Pfister Kraus' Kirchenmusik über alle Maßen: „Hier zu Buchen bliebe er wegen Missgeschicks seines Herrn Vaters ein ganzes Jahr und komponierte mir und allen Musikfreunden zu Gefallen alle Gattung Kirchenmusik /: unter welchen sich zwei Oratoria von der Geburt und Tode Jesu besonders auszeichnen :/ und die wegen ihrer schönen Poesi als Harmonie von geist- und weltlichen Herrn jährlich in der Kirche angehört und bewundert werden. Alle diese Musik habe ich noch in Händen und werden von jedem Kenner derselben als die besten und geschmackvollsten unter allen anderen genennet und hochgeschätzet."
Kraus' kirchenmusikalische Werke, die er während des einjährigen Zwangsaufenthaltes in Buchen schrieb, sind beredtes Zeugnis „nicht nur der beachtlichen kompositorischen Reife des Zwanzigjährigen, sondern auch des hohen Niveaus der Buchener Kirchenmusik“, sollten sie doch in Buchen auch aufführbar sein. Vor allen Dingen macht die Qualität der Kompositionen deutlich, dass die Buchener Kirchenmusik längst nicht mehr ausschließlich von Schülern bestritten wurde, sondern dass zumindest die Bass- und Tenorstimmen von Männern besetzt waren. Die hohen Stimmlagen Sopran und Alt wurden wohl in der Hauptsache noch von Knaben gesungen, nur die Solopartien wurden vermutlich von Frauen übernommen.
Kraus ging im November 1776 zum Studium nach Göttingen, zum Abschied „kam der ganze hiesige Musik-Chor in die Kellerei zusammen, und spielten zur glücklichen Reise eine von seinen selbst gemachten Symphonien mit Trompeten und Paukenschalle, und mit tausend Segens-Wünschen ab.“ Ob das auch wirklich immer so geklungen hat, wie Kraus sich das vorstellte, weiß man natürlich nicht. Marianne Kraus erinnert sich später an einen Besuch Josephs in Amorbach: „bei dieser Gelegenheit fällt mir bei, das ich einmal mit meinem Bruder, wie er uns das letzte Mal in Amorbach besuchte, die dortige Klosterkirche besuchte. Unter der Türe scholl uns schon eine volle Musik entgegen. 'Halt Schwesterchen', sagte mein lieber Joseph, 'wir wollen doch erst ein bisschen hören, was da aufgetischt wird?' Nach Verlauf von 5 Minuten lachte mein Bruder aus Herzensgrund, 'hab ich doch fast meine eigene Arbeit nicht mehr erkennen können, wahrlich, dabei gelassen zu bleiben, ist mehr als gebetet, das ist wahre Kasteiung.'“
Das Musikleben in Buchen ging im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert recht munter weiter, der Boden für eine gute kirchenmusikalische Tradition war bereitet.
Doch ruhig und beschaulich blieb's hier bei weitem nicht. Der Franzosenkaiser Napoleon fegte über das Land, das Kurfürstentum Mainz und die ehrwürdige Abtei Amorbach gingen in den Wirren seiner Kriege unter. Buchen – und mit dem Städtchen das ganze Umland – wurde als weit abgelegener und wenig geliebter nordöstlichster Zipfel dem neuen Großherzogtum Baden zugeschlagen. Im fernen Karlsruhe gedachte man dieses Landesteiles nur, wenn es darum ging, missliebige Beamte möglichst weit weg zu versetzen – dieses Eindrucks konnte man hier sich zumindest nicht erwehren. Auch das alte Bistum Würzburg gab's nicht mehr, statt dessen saß der neue Erzbischof nunmehr im südbadischen Freiburg und damit auch weit weg.
Trotzdem: auch in Buchen wollte man teilhaben an der großen weiten Welt und fand 1811 Anschluss an die Postlinie von Neckarelz über Oberschefflenz, Buchen und Hardheim nach Tauberbischofsheim. Im Jahr 1815 reiste kein geringerer als der große Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe auf seinem Weg nach Weimar auch durch Buchen. Und 1887 kam schließlich auch noch die Bahn. Mit der Eröffnung der Bahnlinie von Seckach nach Walldürn war man, wie es damals hieß: „dem Weltverkehr um ein ganz Bedeutendes näher gerückt“. Es war also eine Zeit der Umbrüche, dieses 19. Jahrhundert, dergestalt auch, dass man 1848 sogar gegen die Obrigkeit auf die Barrikaden ging, man hatte wohl auch allen Grund dazu.
Die Kirchenmusik florierte: ausführliche Inventare und Rechnungsbelege erwähnen die Anschaffung neuer Instrumente, z. B. eine Klarinette aus Dettelbach oder zwei Flöten aus Klingenthal in Sachsen. Und wir erfahren die Namen bekannter Komponisten, deren Werke zur Aufführung in der Buchener Stadtkirche angeschafft wurden: Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, der Amorbacher Klosterkomponist und Freund von Joseph Martin Kraus, Roman Hoffstetter, Antonio Rosetti oder Antonio Diabelli – allesamt Zeitgenossen von Joseph Martin Kraus und – für das frühe 19. Jahrhundert - durchaus moderne Komponisten. Die Buchener Kirchenmusik ging also schon immer mit dem Trend der Zeit und wagte sich an Neues. Natürlich werden auch Kraus' Buchener Werke nach wie vor in den Inventaren aufgeführt und wohl auch musiziert. Warum sonst hätte man wohl 1794 „des alten Rektor Pfister Kirchenmusik“ für 5 Gulden erworben? Damit können eigentlich nur jene Werke von Kraus gemeint sein, von denen Pfister im bereits zitierten Brief an Marianne Kraus spricht.
48 Messen, 18 Trauermessen, 10 Vespern, 10 Antiphone sowie 24 Chor- und Orchesterpartituren verschiedenster Art gehörten demnach zum Repertoire der Buchener Kirchenmusik um die Mitte des 19. Jahrhunderts – ein Repertoire, das sich durchaus sehen lassen kann.
Der „Kirchenmusikchor“, wie die Buchener Kirchenmusik nun zumeist genannt wird, ist aus dem Leben der Pfarrei St. Oswald nicht mehr wegzudenken. Man wusste die Arbeit des sog. „Musikpersonals in der Pfarrkirche zu Buchen“ zu schätzen, denn einem Schreiben der Regierung des Unterrheinkreises in Mannheim von 1844 ist zu entnehmen, dass die Entlohnung des Musikpersonals von jährlich 3 Gulden künftig auf jährlich 22 Gulden erhöht wird – eine saftige Lohnerhöhung. Die Entlohnung wird gewährt „für Musizierung in der Kirche an Sonn- und Festtagen, bei musikalischen Stiftungen an Werktagen, wie auch bei Umzügen um die Stadt, nebst der Beiwohnung bei den erforderlichen Proben“ und ist auf die Mitglieder des „Musikchors“ zu verteilen. Unter „Musikchor“ ist zu diesem Zeitpunkt in jedem Fall sowohl ein Sängerchor und ein Kirchenorchester, als auch ein Bläserensemble unter der Leitung des jeweiligen Stadttürmers zu verstehen. Das Amt des Stadttürmers versah im 19. Jahrhundert übrigens über Generationen hinweg die Familie Schneider, Vorfahren des früheren Kirchenchordirigenten Hermann Wiedemer. Spätestens seit 1844 kann man auch davon ausgehen, dass die Kirchenmusik nicht mehr ausschließlich an die Schule gebunden war, sondern dass sie inzwischen eine Entwicklung zur Eigenständigkeit hin durchgemacht hatte. Chor- und Orchestermitglieder waren nunmehr Pfarrangehörige, die für ihre nebenamtliche Tätigkeit entschädigt wurden. Nicht unerheblichen Aufschwung nahm die Buchener Kirchenmusik unter der Leitung von Rektor Wilhelm Schneider, dem Sohn des letzten Stadttürmers aus der Familie Schneider. Während seiner Amtszeit hatte sich die Zahl der Messen im Repertoire von 48 auf 76, die Zahl der Trauermessen von 18 auf 20 erhöht. Zusammen mit verschiedenen anderen Kompositionen lag die Gesamtzahl der vorhandenen Chor- und Orchesterpartituren zu Beginn des Jahres 1893 bei 180; 39 Instrumente nannte die Buchener Kirchenmusik ihr Eigen.
Und wieder einmal zeigt sich, dass die Buchener Kirchenmusik dem Trend der Zeit folgt: das Jahr 1893 bringt einen deutlichen Bruch und umfassende Veränderungen im Musikleben der Pfarrei St. Oswald. Die ursprünglich 27 Mitglieder des „Kirchenmusikchores“ trennen sich; 14 Musiker, die Bläser, bilden das Stadtorchester, die spätere Stadtkapelle, die verbleibenden 13 Mitglieder bilden den „Kirchengesangschor“ unter der Leitung von Hauptlehrer Gustav Münch. Die organisatorische Trennung zwischen Stadtorchester und Kirchengesangschor dürfte zwischen dem Fronleichnams- und dem Rochusfest 1893 erfolgt sein.
Eine verständliche Folge dieser organisatorischen Trennung ist die Aussonderung aller Blasinstrumente aus dem Inventar der Pfarrei bzw. ihre Übereignung an die Stadtkapelle. Von den ehemals vorhandenen 39 Instrumenten sind 1897 noch 20 im Besitz der Pfarrei, hauptsächlich Streichinstrumente, die aber kurze Zeit später ebenfalls weggegeben werden. Bedauerlich ist, dass bis dahin ein Großteil des Notenfundus aus dem Inventar abgeschrieben und vermutlich weggeworfen wird. Von den ehemals 180 Kompositionen hatte man 1898 noch einen Bestand von 24, 156 Partituren sind ausgesondert worden, darunter auch die Werke von Joseph Martin Kraus, die eigens für Buchen geschaffen waren. Durch umfangreiche Neuanschaffungen beträgt der Bestand an Notenmaterial schon 1905 wieder 150 Partituren.
Die Buchener Kirchenmusik folgt damit der caecilianischen Bewegung, die sich seit etwa 1820 als kirchenmusikalische Reformbewegung in Deutschland verbreitet. Man besinnt sich wieder auf die Grundelemente des gregorianischen Chorals; die A-capella-Werke eines Palestrina oder Orlando di Lasso, und auch in Buchen schließt man sich dieser Entwicklung an.
Nach der Neuorganisation verfügt der Katholische Oberstiftungsrat 1894, dass „den Mitgliedern des dortigen neugegründeten Kirchengesangschores für ihre Mitwirkung beim sonn- und festtäglichen Gottesdienst und bei sonstigen kirchlichen Feierlichkeiten eine jährliche Vergütung von 60 Mark aus dem Kirchenfond verabfolgt werde". 60 Mark sollte außerdem die städtische Musikkapelle für ihre Mitwirkung bei den Prozessionen an Fronleichnam und Rochus erhalten.
In der Tat ist also diese Zeit so etwas wie ein Neubeginn in der Geschichte der Buchener Kirchenmusik, kein leichter zudem, wie die geschrumpfte Mitgliederzahl zeigt. Der in diesen Jahren neu angeschaffte Notenbestand verdeutlicht denn auch den Einfluss der Kirchenmusikreform: erworben werden A-Capella-Werke von Komponisten wie Palestrina, aber auch von Vertretern des gerade modernen Cäcilianismus wie Karl Kempter, Josef Rheinberger, dem aus Walldürn gebürtigen Johann Baptist Schweizer, oder dem ebenfalls aus Walldürn stammenden und viele Jahre in Oberneudorf als Lehrer tätigen Otto Hefner.
Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ - obwohl wirtschaftlich überhaupt nicht erfolgreich - bringen für die Buchener Kirchenmusik neue Impulse: 1921 übernimmt Hauptlehrer Georg Walz das Dirigentenamt. 1923, mitten in der schwierigsten Phase der Inflation, erhält die Stadtkirche eine neue Orgel, eine Spende von ehemaligen Buchenern, die nach Amerika ausgewandert waren. 1926 führt der Mannheimer Spitalchor unter Stefan Winter in Mannheim und in Buchen erstmals wieder Werke von Kraus auf, der Beginn der sog. Kraus-Renaissance. In das Jahr 1927 fällt für den Kirchenchor ein überaus wichtiges Ereignis, nämlich erstmals die Wahl eines Gesamtvorstandes und die Umwandlung des Caecilienvereins in einen eigenständigen Verein.
Geselligkeit wird im Kirchenchor schon immer groß geschrieben: wenige Tage nach der offiziellen Vereinsgründung lädt der Chor seine Mitglieder zu einem gemütlichen Abend in den „Reichsadler“ ein. „Nach dem vorzüglichen Essen", so der Chronist, „vergnügten sich die Mitglieder durch heitere Vorträge und Gesellschaftsspiele".
In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren ist der Chor ziemlich gefordert: Einige Male sind in jenen Jahren Verabschiedungen von Mitgliedern, die nach Amerika auswandern, in der Vereinschronik erwähnt, eine Folge der Wirtschaftskrise. Die Primiz von Josef Kirchgeßner findet 1930 statt, 1931 die Gedenkfeier zum 400. Todestages von Konrad Koch Wimpina in Anwesenheit von Weihbischof Dr. Burger und dem aus Buchen stammenden Staatspräsidenten Josef Wittemann, 1932 folgt das Silberne Priesterjubiläum von Stadtpfarrer und Dekan Josef Blatz und 1934 weilt Erzbischof Dr. Conrad Gröber zur Firmung in Buchen.
1930 hat der Erzbischof neue Richtlinien für die Kirchenmusik erlassen; danach sollte an Festsonntagen generell lateinisch gesungen werden und zwar entweder choral oder mehrstimmig. Vielleicht ist das im Protokoll genannte Seminar im liturgischen Gesang, insbesondere im gregorianischen Choral, das ein Benediktiner aus Beuron eigens für den Chor hier abhielt, in diesem Zusammenhang zu sehen. Wie dem auch sei: ein Vorstandsbeschluss aus dieser Zeit regelt jedenfalls, dass „nur Herren über 20 Jahre und mit guter Stimme Aufnahme im Chor finden sollten.“ Von den Damen ist nicht die Rede, aber sie traten ja in der Regel ohnedies gleich nach der Schulentlassung dem Chor bei.
Eine schwierige Zeit beginnt für die 43 Chormitglieder, wie für alle kirchlichen Vereinigungen, mit dem Jahr 1933. Schon bald gibt es erste Austritte einiger Staatsbediensteter, die wohl berufliche Nachteile fürchteten. Mit Max Deggelmann, Hermann Wittemann und Willi Pfeiffer kommen neue Mitglieder, die fest zu ihrem Glauben stehen. Anfang 1935 scheint der Bestand des Kirchenchores akut gefährdet und kann nur durch den Neueintritt von fünf Sängern und sieben Sängerinnen überwunden werden. 1937 vermerkt das Protokollbuch die Schwierigkeiten, Probetermine ohne Zeitung bekannt zu geben; es kommt zu Versetzungen von kirchentreuen, dem Chor angehörenden Beamten. 1938 legt Chorleiter Walz sein Amt nieder und der Schriftführer bemerkt: „Mit gleichem Zeitpunkt sahen sich verschiedene treue Mitglieder durch äußere – des ursprünglich gebrauchte Wort „politische“ hatte er gestrichen – Anlässe gezwungen, dem Chor abzusagen, so dass der tatkräftige Bestand desselben gefährdet ist." Doch es gibt Retter in der Not: der Zwiebelklub, ein Geselligkeitsverein, tritt en bloc dem Chor bei und füllt die entstandenen Lücken auf. Willi Pfeiffer übernimmt die Chorleitung, Hermann Wittemann das Organistenamt. Der Chor zählt 36 aktive Sängerinnen und Sänger, pro Stimme neun.
Eine harte Bewährungsprobe bringt der Zweite Weltkrieg. Für den eingerückten Dirigenten springt Hermann Wittemann ein, ab Ende 1941 dirigiert Kaplan Wunsch den Chor und führt das Protokoll. Wunschs Eintragungen schildern die Arbeit in schweren Zeiten: 1941 sind neun Sänger an der Front, kirchliche Feiertage, die nicht auf einen Sonntag fallen, dürfen nicht mehr gehalten werden; am Weißen Sonntag 1942 läuteten die Glocken der Stadtkirche zum letzten Mal, bevor sie eingeschmolzen werden; im Winter 1942/43 grassiert eine Typhusepidemie, zweieinhalb Monate bleibt die Kirche geschlossen, die Chorproben fallen aus. Im Protokoll schreibt Kaplan Wunsch: „Jammern, das kann jeder, froh sein nur der Starke!" Und über die letzten Kriegsjahre heißt es: „Der Weltkrieg brachte es mit sich, dass auch die Tätigkeit des Kirchenchores etwas in den Hintergrund treten musste. Aber trotzdem ist es gelungen, wenn es auch manchmal so schien, als ob es nicht mehr gehen wollte, die Kräfte zusammenzuhalten, so dass immer wieder bei besonderen Anlässen und an Festtagen der Chor auftreten konnte. Allen Mitgliedern, die treu zur Sache gestanden haben, und dieses Opfer gern und freudig brachten, was manchmal unter der Herrschaft des Dritten Reiches für viele Mitglieder mit großen Schwierigkeiten verbunden war, sei an dieser Stelle herzlicher Dank gesagt." Mit dem Kriegsende 1945 geht auch die bislang härteste Bewährungsprobe zu Ende, die der Kirchenchor St. Oswald in seiner langen Geschichte zu bestehen hatte.
Der Zweite Weltkrieg ist vorüber; sechs Chormitglieder sind gefallen oder werden vermisst. Stadtpfarrer Josef Blatz, der den nationalsozialistischen Machthabern manches Mal die Stirn geboten hatte, ist im Juli 1946 verstorben. Die Chorarbeit geht erst mal unter schwierigen Bedingungen, aber durchaus erfolgreich unter der Leitung von Willi Pfeiffer weiter. An Weihnachten 1946 wirkt erstmals nach über 50 Jahren wieder ein kleines Orchester mit. 1947 stellt Willi Pfeiffer sein Amt zur Verfügung, neuer Chorleiter wird Kapellmeister Alfons Roos. An Weihnachten 1947 wirkt neben Chor und Orchester erstmals ein Kinderchor mit.
Rasch zeigt sich, dass der katholische Kirchenchor mit seinem Repertoire wieder auf der Höhe der Zeit ist: 1949 studiert man eine Messe von Johann Baptist Hilber zusammen mit einem 13 Mann starken Orchester ein, das Werk eines noch lebenden, zeitgenössischen Komponisten. Glockenweihe, Primizfeiern der Patres Mehl, Rathmann und Wörner, das Goldene Priesterjubiläum von Monsignore Albert Kieser – all dies sind besondere Feiern, die der Chor gestaltet.
Man sollte meinen, alle Schwierigkeiten sind nun gelöst. Doch so schnell ging's nicht. Das größte Interesse jener Jahre gilt der geplanten Kirchenerweiterung, erwartet man sich doch davon eine wesentliche Verbesserung der sehr beengten Platzverhältnisse. Das leidige Platzproblem auf der Empore - bis 1958 war es die alte Chorempore, danach die neue im Erweiterungsbau - zieht sich als Dauerbrenner durch sämtliche Generalversammlungen. Erst seit der letzten großen Renovierung in den 1990er Jahren ist dieses Problem gelöst. A propos Generalversammlungen: in der unmittelbaren Nachkriegszeit sind ganz andere Dinge ein Thema für's Protokollbuch als heute: ein „schmackhaftes Essen" und der „seltene Genuss echten Bohnenkaffees" werden von der Schriftführerin besonders hervorgehoben, solche Bemerkungen würden heute nur Verwunderung auslösen.
Der Kirchenumbau beeinträchtigt die Chorarbeit sehr stark. Die Unterbringung von Orgel und Kirchenchor auf der Seitenempore im neuen Querschiff ist nach damaliger Ansicht, wie der Chronist wörtlich schreibt „nicht dazu angetan waren, fördernd auf die Kirchenmusik in St. Oswald zu wirken." Hinzu kommt, dass der Kirchenneubau kurz vor dem II. Vatikanischen Konzil in eine Zeit des Umbruchs fällt, in der Zweifel über den Platz der Kirchenchöre in der Liturgie nicht zu überhören sind und wohl auch die Existenz des Buchener Kirchenchores in Frage gestellt wird. In dieser nachkonziliaren Zeit erhalten die Chöre eine wichtige Aufgabe zugewiesen. Sie sollen gemeinsam mit der Gemeinde die Liturgie gestalten, ansonsten würden sie sich selbst überleben und seien überflüssig. Mit dieser Einstellung ist es natürlich nicht einfach, neue Sänger zu gewinnen und angesichts des Mangels an Tenören stöhnt das Protokollbuch „Doch wer geht schon in den Kirchenchor!"
Auch personell gibt es eine Umbruchphase in den Jahren 1958 bis 1962. Der Dirigent Alfons Roos erkrankt schwer und muss sein Amt aufgeben, zunächst übergangsweise an seinen Bruder Walter, dann an Hermann Wiedemer, der den Chor nahezu vier Jahrzehnte erfolgreich weiter führt. In der Vorstandschaft legt 1962 Max Deggelmann sein Vorstandsamt nieder und Hubert Kieser wird zum Nachfolger gewählt, ein Amt, das er mehr als drei Jahrzehnte inne haben sollte. Und musikalisch ist der Chor allen Unkenrufen zum Trotz voll funktionsfähig, gestaltet aktiv 1958 die Grundsteinlegung für die Kirchenerweiterung, 1961 die Einweihung der erweiterten Kirche durch Weihbischof Gnädinger und 1964 die Weihe der neuen Orgel. Aus letzterem Anlass studiert der Chor ein „Magnificat" des damals in Buchen lebenden Komponisten Hans Vleugels ein, eine Messe dieses zeitgenössischen Komponisten folgte wenige Jahre später. Auch die Frage, ob der Chor Jazzmessen singen wollte, wird damals heiß diskutiert. Neben modernem Liedgut wagt sich der Chor in den 1970er Jahren aber auch an eine erste Schallplattenaufnahme mit der Motette „Stella coeli“ von Joseph Martin Kraus, und geht neue Wege mit dem gemeinsam mit der Stadtkapelle organisierten Vorsommerfest unter dem Motto „Mit Musik geht alles besser!“.
Mit der Mitwirkung beim Festzug „700 Jahre Stadt Buchen" 1980, einer ersten ökumenischen Adventsmusik mit dem Evangelischen Kirchenchor 1982, der Teilnahme am „Tag der Buchener“ bei der 900-Jahr-Feier des Stiftes Göttweig 1983, dem Jubiläum „350 Jahre Rochusfest in Buchen“ 1985 und schließlich mit den Festveranstaltungen „300 Jahre Kirchenmusik“ 1988 setzen Kirchenchor und Orchester besondere Akzente im Gemeindeleben der Pfarrei St. Oswald.
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Kirchenmusik in Buchen einen enormen Aufschwung genommen. Die kontinuierliche Arbeit von Chor und Orchester, ihres langjährigen Dirigenten Hermann Wiedemer und ihres Vorstands Hubert Kieser wurde belohnt durch die Verleihung der Palästrina-Medaille, einer Auszeichnung des Allgemeinen Caecilien-Verbandes im Jahr 1988 und ihres Pendants für weltliche Chöre, der Zelter-Plakette im Jahr 1989. Damit war der Weg bereitet für einen Generationswechsel, wie er einige Jahre später eintreten sollte, v. a. aber für die Schaffung einer hauptamtlichen B-Musiker-Stelle an St. Oswald. Hermann Wiedemer wurde 1995 verabschiedet, für seine Verdienste ausgezeichnet mit der Verdienstmedaille der Stadt Buchen und der Verleihung der Ehrendirigentenwürde des Kirchenchores, seine Nachfolgerin wurde Carola Bucher.
In ihrer nur knapp vierjährigen Dienstzeit in Buchen wurden neue Wege beschritten: sie bemühte sich intensiv um die Kinder- und Jugendchorarbeit und lud Erwachsene dazu ein, als Projektsängerinnen und -sänger zeitlich begrenzt, unverbindlich und ohne Verpflichtung bei besonderen kirchenmusikalischen Veranstaltungen – seien es besondere Gottesdienste oder auch Konzerte – mitzuwirken und auf diese Weise die Kirchenchorarbeit erst mal kennen zu lernen. Für viele Kirchenbesucher vielleicht ungewohnt, aber nicht minder reizvoll war bereits ihr erstes Chorprojekt, die Osterkantate „Christ lag in Todesbanden“ von Johann Sebastian Bach, die im Rahmen des Ostergottesdienstes erklang. Da hieß es doch hinterher nicht nur von den Besuchern, sondern auch aus den Reihen der Chormitglieder „Ihr habt ja wunderbar gesungen, aber: die lateinische Messe, die sollt Ihr net vergesse!“ Davon unbeirrt setzte die Chorleiterin ihre Projektarbeit fort und hatte auch mit Felix Mendelssohn-Bartholdys Vertonung von Psalm 42 „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser“ großen Erfolg.
Doch auch die Liebhaber der großen lateinischen Orchestermessen sollten bald wieder voll auf ihre Kosten kommen, konnte doch mit dem „Fürstlich-Löwensteinischen Hofkapellmeister“ Hellmuth Fritz-Guischard ein Musiker gewonnen werden, der 1999 für ein Jahr die Chorleitung vertretungsweise übernahm und es sich in dieser Zeit nicht nehmen ließ, so ziemlich alle vorhandenen Orchestermessen mit wachsender Begeisterung zu musizieren.
Die „Kölner Domfestmesse“, das „Weihnachsoratorium“ von Johann Sebastian Bach, die Oratorien „Emmaus“ von Thomas Gabriel und „Der Messias“ von Georg Friedrich Händel sind nur einige Beispiele für besondere kirchenmusikalische Akzente der letzten 13 Jahre unter Horst Berger. Zusätzliche Probewochenenden machen die Chor- und Projektsänger fit für die musikalischen Herausforderungen, stärken aber auch das Gemeinschaftsgefühl. Das Repertoire umfasst das gesamte Spektrum der Kirchenmusik bis hin zu modernen zeitgenössischen Werken aus dem Bereich des Neuen Geistlichen Liedgutes. Aus Anlass des 250. Geburtstages von Joseph Martin Kraus wurde 2006 dessen Oratorium „Der Tod Jesu“ neu einstudiert, das eigens für die Buchener Kirche komponiert worden war. Ein Jahr später, aus Anlass des 500-jährigen Bestehens der Stadtpfarrkirche St. Oswald, stand wiederum ein Werk auf dem Programm, das eigens für St. Oswald geschaffen wurde: das Oratorium „Petrus“ mit Texten von Christof Kieser und Musik von Christian Roos. Die Welturaufführung erlebte ein begeistertes Publikum am 23. September 2007.
Eine Herausforderung der besonderen Art und der absolute Höhepunkt der letzten Jahre war das Konzert zur Eröffnung der neuen Stadthalle im November 2011. Mit Kirchen-, Jugend- und Projektchor sowie dem Konzertchor „Cantamus“ des MGV Liederkranz, mit Solisten, klassischem Orchester und Band war die Bühne bis auf den letzten Platz gefüllt und der Zuschauerraum in der Stadthalle mit rund 800 Plätzen an zwei Konzertabenden nicht minder. Das Programm umfasste unter dem Motto „Rock & Klassik“ querbeet alle Stilrichtungen der Musikgeschichte.
Mit einem aktiven Kirchenchor, einem sehr erfolgreichen Jugendchor und drei quicklebendigen Kinderchorgruppen, unterstützt durch den rührigen Förderverein „Kirchenmusik St. Oswald“ muss einem auch im 325. Jahr ihres Bestehens um die Kirchenmusik in Buchen nicht bange sein.
Die Kirchenmusik an St. Oswald in Buchen ist seit jeher ein lebendiger Bestandteil des Gemeindelebens. In den 2020er Jahren prägen der Kirchenchor, der Kinderchor und der Jugendchor gemeinsam das musikalische Gesicht der Pfarrgemeinde und tragen dazu bei, dass Gottesdienste und kirchliche Feiern in besonderer Weise gestaltet werden.
Der Kirchenchor trifft sich regelmäßig zu Proben im Wimpina-Saal und bereitet dort das musikalische Programm für die Gottesdienste und besonderen Festtage vor. Im Mittelpunkt stehen die klassischen Hochfeste wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten, aber auch Patronatsfeste, Firmungen oder Hochzeiten werden feierlich mitgestaltet. Neben der reinen Liturgiepflege stellt der Chor auch größere Projekte auf die Beine, etwa thematische Konzerte, Benefizveranstaltungen oder Kooperationen mit Instrumentalensembles. Die lange Tradition und die Offenheit für neue Mitglieder machen den Chor zu einer tragenden Säule des Gemeindelebens.
Der Jugendchor St. Oswald bietet Jugendlichen die Möglichkeit, sich musikalisch einzubringen und eigene Akzente zu setzen. Die Jugendlichen wirken in ausgewählten Gottesdiensten mit und übernehmen teilweise auch solistische Aufgaben.
Besonders bunt und lebendig ist das Wirken des Kinderchors. Dieser gestaltet traditionell die Narrenmesse am Faschingssonntag, wirkt beim Gottesdienst am Ostermontag sowie am zweiten Weihnachtsfeiertag mit und bereichert so die Feierlichkeiten durch fröhliche und altersgerechte Musik. Hinzu kommen immer wieder kleinere Auftritte und Projekte, die den Kindern Bühnenerfahrung geben und das Gemeinschaftsgefühl stärken.
Wie viele Chöre war auch St. Oswald in den frühen 2020er Jahren von den Einschränkungen der Corona-Pandemie betroffen. Proben mussten zeitweise ausgesetzt oder in kleiner Besetzung mit Hygienekonzepten durchgeführt werden. Teilweise wurden alternative Formate entwickelt, etwa digitale Proben oder spontane Projektauftritte nach der Wiederaufnahme. Trotz dieser Umstände ist es gelungen, die Chorgemeinschaft zusammenzuhalten und nach der Pandemie das musikalische Leben wieder aufblühen zu lassen.
Die drei Chöre erfüllen weit mehr als nur die Aufgabe der musikalischen Gestaltung. Sie sind Orte der Begegnung, fördern Gemeinschaft über Generationen hinweg und tragen maßgeblich zur kulturellen Vielfalt der Stadt Buchen bei. Kinder und Jugendliche erfahren Freude am gemeinsamen Singen, musikalische Ausbildung und ein Stück Heimat in ihrer Kirchengemeinde. Der Kirchenchor verbindet die Gemeinde durch Musik, die sowohl Tradition als auch Gegenwart lebendig hält.
So bleibt die Kirchenmusik St. Oswald Buchen auch heute ein fester und unverzichtbarer Bestandteil des geistlichen und kulturellen Lebens – getragen von Engagement, Begeisterung und der Freude an gemeinschaftlichem Singen.
Aus dem Jubiläumsabend entstand der ‚Zwibbelklub 2.0‘ , der als moderne Form der alten Tradition, die Geselligkeit, Gemeinschaft und Musikgeschichte neu belebt.